… oder auch doppelter Aufbruch

Lette – das ist mein beschauliches 5000-Seelen-Wahlheimat-Örtchen im Münsterland. So meine Sicht der Dinge. Für die Kreisstadt Coesfeld, der Lette durch Eingemeindung zugehörig ist, ist es das „Gallische Dorf des Münsterlandes“. Aber das ist eine ganz andere Geschichte. Kommen wir zurück zur ersten.

In dieser Geschichte und genauso im echten Leben ist Lette wunderbar ländlich. Und das genieße ich ehrlich. Ich liebe es auf dem Land zu wohnen. Allerdings ändern sich die Zeiten. Mit ihnen auch die Ansichten. In Lette weniger die der Menschen als die der „Skyline“. Wobei ich bei dem Wort schon grinsen muss. Als wir vor 30 Jahren nach Lette zogen, da sah man abends, im Dunkeln, nur Dunkel und die angestrahlte katholische Kirche. Unterdessen ist das schon anders. Neue kleine Wohngebiete und die entsprechende Straßenbeleuchtung sowie die erleuchteten Fenster machen den Ort schon deutlich heller.

Was jedoch am meisten ins Auge sticht, das sind hoch über dem Ort die Lichter der Windräder, die wie Pilze aus dem Boden schießen. Wenn ich im Winter abends aus dem Stall komme, dann habe ich bei dem Anblick fast den Eindruck, ich führe auf den Frankfurter Flughafen zu.

Da kommen schon oft Gedanken an einen Aufbruch. Flughäfen sind schließlich „die“ Orte für einen Aufbruch in den Urlaub, Aufbruch zu fernen, unbekannten Zielen, oder auch dem Aufbruch zu wohlbekannten Sehnsuchtsorten.

Ich erinnere mich dann besonders gerne an zwei abenteuerliche Flüge zum Bodensee und an eine Reise nach Venezuela. Letztere habe ich nur sehr, sehr widerstrebend und unterm Strich aus echter christlicher Nächstenliebe angetreten. Dort sollte ich eine Freundin besuchen, die in einer traumhaften Wohnanlage für gut Betuchte direkt am Strand des karibischen Meeres wohnte.

Für so viele Menschen ein Traumurlaub. Für mich der blanke Horror. Ich war zu dem Zeitpunkt eine fast exzessive Walkerin, die jeden Tag ihre 11 Kilometer brauchte. An Laufen oder Walken war in Venezuela jedoch nicht zu denken. Viel zu gefährlich. Außerdem war meine Freundin körperlich stark eingeschränkt. Ich saß zwei Wochen lang – im Auto, in der Wohnung, am Pool, im Restaurant, …. Mein Leben als Pferdefrau lag noch in Wartestellung, hatte aber schon – ohne dass ich es wusste – angefangen, denn alles, woran ich auf dem sehr langen Hin- und dem nicht weniger langen Rückflug denken konnte, war ein armes, vernachlässigtes Pferd auf einer Weide, die an meiner Laufroute lag. Auch die Zeit in der wirklich traumhaften Umgebung, bei den vielen schönen Ausflügen – meine Gedanken und Gebete gehörten dem Pferdchen.

Dieses kleine Pferd war offensichtlich sehr krank und wurde in wahrhaft unwürdigen, tierschutzrelevanten Zuständen gehalten.
Es hatte keinen Witterungsschutz, sondern nur eine baufällige Holzhütte mit einem großen Loch in der Decke, in der Mitte seines Strohlagers ein Haufen Fell mit etwas Verwesendem und keinen geregelten Zugang zu Trinkwasser. Dafür stand nur ein alter Bottich auf seiner Weide, der nach Regen mit Wasser gefüllt war. Kein Regen – kein Wasser. Dann hatte er nichts zu trinken. Seine Hufe hatten schon lange keinen Schmied mehr gesehen. Sie bogen sich in die Höhe und jeder Schritt tat weh. Außerdem litt er an Cushing. Doch keiner pflegte sein Fell. Seine Zunge war vorne gespalten und mit eitrigen Stellen übersäht.

Mit den Menschen hatte er abgeschlossen. Doch ich habe es über sechs Monate hin geschafft, dass er mich an sich ran lies. Wegen seinem zotteligen Fell und seiner Griesgrämigkeit nannte ich ihn „Grazo“. Abkürzung für grantiger Zottel. Es ging auf den Winter zu und ich hatte das Gefühl, ihn im Stich gelassen zu haben. Ganz so war es nicht. Ich hatte nur noch nicht ausfindig machen können, wem er gehörte. Trotzdem: Nobelhotels, Sehenswürdigkeiten, baden in der Karibik – nichts konnte ich genießen. Was machte Grazo? Wie ging es ihm?

Zurück aus dem Urlaub wollte ich endlich wieder auf meine Laufrunde. Dringlichst! Aber – mein Herz wollte vor Allem zu Grazo. Doch der hatte wohl auch gedacht ich hätte ihn vergessen und mich nicht mehr kümmern wollen. Als ich endlich, also gleich am Morgen nach meiner Ankunft, wieder laufen ging und an seine Weide kam, sah er mich traurig und grimmig an. „Du also auch? Du bist nicht besser!“ Er stand da mit angelegten Ohren und kam nicht zu mir. Ich musste von neuem Vertrauen aufbauen.

In den nächsten Tagen bekamen wir im Münsterland wirklich einmal richtigen Winter. Nachts minus 18 Grad und hohen Schnee. Am 18.12. 2009 kamen mein Mann und ich gegen 23:30 Uhr von einer Geburtstagsparty. Wir hatten meinen Kleinwagen genommen. Und da konnte ich nicht mehr an mich halten. Mitten in diese Situation „beichtete“ ich meinem vollkommen unvorbereiteten Mann, dass es seit einiger Zeit „noch einen anderen Mann in meinem Leben“ gibt und das ich ihm jetzt etwas zeigen wolle. Ohne besonders auf die Einwände meines Mannes zu achten fuhr ich mit meinem Wagen durch hohen Schnee über Straßen, deren ungefähren Verlauf man nur an den Gräben links und rechts erkennen konnte. An der Weide angekommen ließ ich das Autolicht auf die Stelle gerichtet, an der ich Grazo vermutete. Und dann kam das erste Mal ein lautes Wiehern von dem kleinen Mann und so schnell es seine kalten Knochen und die schmerzenden Füßchen zuließen, versuchte er auf mich zu zu galoppieren.

Das Bild machte auch meinen Mann fassungslos und er sagte: „Das arme Tier springt dir ja fast ins Auto. Morgen gehört das Pferd dir! So geht das nicht!“ Ich war überglücklich, aber es brach mir fast das Herz Grazo noch einmal so zurücklassen zu müssen. Und ich konnte nur hoffen, dass mein Mann wirklich so schnell etwas ausrichten konnte. ABER – er konnte. Am nächsten Morgen hatten wir einen Stall, jemanden, der ihn abholen würde und die Nummer der Besitzerin. Ich ging ans Telefon. 5 Minuten – und ich hatte ein Pferd. Mein erstes eigenes Pferd. Mein Grazo!!!! Ich dankte Gott aus tiefstem Herzen.

Zum Abholen beim Bauern war die Besitzerin sogar noch einmal persönlich erschienen. Sie wollte mir zeigen, wie eng doch die Beziehung zu ihrem Pferd war. Grazo war auf einen Paddock am Haus geholt worden, den man vom Parkplatz aus nicht einsehen konnte. Ich ließ ihr den Vortritt.

Sie ging um einen kleinen Stall herum, blieb am Gatter stehen und rief mit zuckersüßer Stimme (ich bekam Brechreiz) „Nero! Hallo Nero, Frauchen ist hier! Nero!“ Aha, Grazo hieß also Nero. Ok, die Reaktion war ein Anlegen der Ohren und sein Hinterteil wurde in Position gebracht. Das konnte ich mit einem Auge um die Ecke linsend sehen. Zeit für meinen Auftritt. Ich trat ans Gatter, leises Summen und Grazo wieherte lauthals seine Freude und Erleichterung über mein Erscheinen hinaus. Und wieder kam er so schnell es ihm möglich war auf mich zu.

Ich aber wollte nur dort weg!
Verladen? Ich glaube, mit mir wäre er über ein brennendes Hochseil gelaufen. Leider konnte ich ihm nur noch drei schöne Wochen ermöglichen, bevor er dann mit seinem Kopf auf meinen Beinen einschlief und seine Seele auf die Himmelsweide wechselte.

Ganz schön viele Aufbrüche in kurzer Zeit.
Und dann kam auch noch Giacomo. 😉
Dieser überhebliche Sportsfreund, der schon gleich zu Anfang erst mal „über mich hinweg-sah“.

~ Cornelia Bagheri

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