Bei der Weltmeisterschaft In London in seinem letzten 100m Lauf holt Usain Bolt „nur“ Bronze. Alle Welt erwartete die Goldmedaille zum krönenden Abschluss, doch sein Kontrahent Justin Gatlin gewinnt den Sprint. Trotz des furiosen Siegs wird Gatlin aufgrund seiner Dopingvergangenheit gnadenlos vom anwesenden Publikum ausgebuht. Bei der abschließenden Ehrenrunde bekommt Bolt alle Anerkennung. Das Stadion jubelt ihm mit Standing Ovations zu. Gatlin scheint von den Stadionbesuchern komplett ignoriert zu werden.

Dann geschieht etwas Merkwürdiges – Gatlin kniet sich im Stadion vor Bolt nieder.

Warum tut er das, habe ich mich gefragt? Vielleicht, weil er keine Wertschätzung für seine gute Leistung bekommt oder weil er erst ausgebuht und dann ignoriert wird? Das Leichtathletik Magazin schreibt: „… macht sich mit einer Unterwürfigkeitsgeste gegenüber Bolt, als er sich vor ihm niederkniet, lächerlich“. Gatlin wird Weltmeister und es scheint niemanden zu interessieren. Im Gegenteil, er wird ausgebuht, ignoriert und dann auch noch belächelt. Als ich diesen Artikel in meiner Leichtathletik-Zeitung gelesen habe, hat es mich irgendwie traurig gemacht. Wie muss Gatlin sich gefühlt haben? Wer hilft ihm in solch einer Situation? Wo bekommt er die Wertschätzung, die er wie jeder Mensch so dringend braucht?

In Spiegel Online vom 14.8.2016 stand: „Gatlin hat sich daran gewöhnt, dass er angezweifelt wird und dass die Leute skeptisch sind. Er ignoriert sie, genauso wie Bolts Mätzchen vor dem Rennen. „Ich habe nicht vier Jahre ausgesetzt und bin zurückgekommen, um mich von ein paar Worten umhauen zu lassen“, sagt er.

Wenn ich in mich hinein höre, könnte ich mir für mich nicht vorstellen, dass die Anzweiflungen und Infragestellungen spurlos an einem Menschen vorüber gehen. Jeder Mensch braucht Wertschätzung und es ist verletzend, wenn man diese nicht bekommt, obwohl man so viel dafür getan hat. Ich frage mich, wie wir Menschen/Sportlern begegnen, die sich nicht so verhalten, wie es unserer Meinung nach richtig gewesen wäre. Und wie geht Gott mit uns um, wo wir doch ständig Dinge tun, die in seinen Augen alles andere als richtig sind? In Jesaja 43, 4 steht:

„…weil du in meinen Augen so wert geachtet und auch herrlich bist und weil ich dich so lieb habe.“

Wow, was für eine Aussage! Wir sind bei Gott wertvoll und er liebt uns so, wie wir sind. Wir müssen ihm nichts beweisen. Und wir müssen auch nicht irgendeine großartige Leistung bringen. Er liebt uns trotz unserer Fehler. Wenn wir in seinen Augen so wertvoll und geliebt sind, müssten wir doch eigentlich megaglücklich sein?

Trotzdem fühlen wir uns oft nicht so, wir schauen auf das Negative und Verletzende und richten den Blick nach Enttäuschungen nicht auf den, der uns unfassbar liebt und gnädig ist. Es fällt uns schwer, anderen Menschen/Sportlern in unserem Umfeld die Wertschätzung, die wir von Gott bekommen, weiter zu geben. Warum eigentlich? Wertschätzung betrifft einen Menschen als Ganzes, sein ganzes Wesen. So habe ich es in Wikipedia gelesen. Sie ist unabhängig von Taten oder Leistung, auch wenn solche die subjektive Einschätzung über eine Person und damit die Wertschätzung beeinflussen.

Wenn unsere Wertschätzung davon abhängig ist, was für eine innere Haltung wir gegenüber anderen Menschen haben, heißt das doch im Umkehrschluss, dass, wenn unsere Meinung von einem Menschen/Sportler nicht so gut ist, wir ihn dann auch nicht wertschätzen. Was sagt aber die Bibel zu dieser Haltung? „Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt“ (Joh. 4,19). Gott sagt nicht: Liebt nur die Menschen, die eurer Meinung nach eine richtige Einstellung haben, sondern er meint ganz klar, dass wir grundsätzlich jeden Menschen lieben sollen.

Wenn ich jemanden liebe, dann schätze ich ihn auch wert so wie er ist – mit allen Fehlern und Schwächen. Aber auch mit seinen Gaben und Stärken. Ich finde es bemerkenswert, dass Gatlin sich überhaupt wieder zur Weltspitze hoch gekämpft hat und so weit gekommen ist. Aus meiner Sicht, hat er unsere Wertschätzung verdient, weil Gott ihn bereits vor uns geliebt hat und uns als Vorbild in der Liebe zu allen Menschen vorangeht.

Lysann Haase
Leichtathletik-Trainerin
Mitglied des SRS Aufsichtsrats

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